
Angedacht von Pastor Reinhard Keding
Sie kennen das alle! Ich fahre an einem Obdachlosen vorbei. Er steht an dieser Stelle schon seit Jahren. Er ist auch dorfbekannt; fährt mit seinem Fahrrad durch unsere Region. Ich kenne ihn nicht mit Namen, aber das Gesicht kenne ich. Wie oft habe ich mich schon gefragt: Wie der wohl heißt? Wo der wohl herkommt? Warum ist er ein Obdachloser geworden?
Meist habe ich gerade keine Zeit, wenn ich ihn mal wieder an der Bushaltestelle auf der Bank sitzen sehe. Manchmal auch mit einem „Kumpel!“ Im Winter und bei Dauerregen regt sich bei mir eher Mitleid. Jetzt im Mai kann ich solche Menschen besser aushalten. Wenn ich vorüberfahre, scheint es mir, dass dieser Mensch auch gar nicht so unglücklich ist. Ist er tatsächlich bedürftig? Stelle ich die Frage nur, um mir ein gutes Gewissen zu geben, kommt mir sofort in den Sinn.
Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag. Sprüche 3,27
Diesen Satz, der als Monatsspruch für Mai ausgesucht wurde, las ich bei der Vorbereitung auf der Suche nach einem Thema für Angedacht im Monat Mai.
In anderen Ländern sind die Bedürftigen unübersehbar. Sie stehen an den Straßenkreuzungen, warten, dass die Ampel rot wird. Dann müssen alle anhalten. Schnell an ihnen vorbeifahren ist unmöglich. Sie wissen das, die Bettler*innen. Kinder, junge Erwachsene, ältere Menschen, meist etwas verwahrlost, versuchen die Aufmerksamkeit mit ihren Blicken zu bekommen. Sie klopfen an die Fensterscheibe, weil diese aus Angst, dass die Menschen übergriffig werden, geschlossen sind. Manche haben Schilder, die sie denen im Auto sitzenden entgegenhalten: „Hunger!“, steht oft drauf. Oder auch „keine Arbeit!“
Es sind so viele am Tag, dass in mir zwei Emotionen gleichzeitig zu keimen beginnen: Mitleid und Abschottung. Ich überlege, warum stehen diese Menschen hier? Was ist ihr Schicksal? Dann kommt sofort die andere Seite in mir nicht zur Ruhe: Ich kann doch gar nichts ändern, ich kann nichts verändern an deren Situation. Was wäre denn jetzt gut für diese Bedürftigen an den Kreuzungen. Was wäre denn gut für den obdachlosen Mann, den ich am Anfang beschrieben habe?
Ehrlich gesagt ich weiß es nicht. Ich drehe die Frage um: Was wäre denn gut für mich, wenn ich diesen Menschen begegne? Eine gute Antwort gibt mir dieser Satz aus dem Erziehungsanleitung für Königskinder. Für sie sind die „Sprüche Salomos“ ursprünglich zusammengestellt. „Verweigere dich nicht, wenn deine Hand es vermag!“
Ich habe mich dann doch auf den Weg gemacht, habe den Mann an der Bushaltestelle angesprochen. Wir haben länger miteinander gesprochen. Er hat mir ein wenig von seinem Leben erzählt. Er scheint zufrieden zu sein mit seinem selbstgewähltem „Lebensstil“. Hilfe bekommt er, und er weiß auch, wo er sie sich holen kann.
Jetzt kenne ich ihn mit Namen. Und ich bin sicher, wir werden uns wohl noch öfter unterhalten. Vielleicht war das kurze Miteinandersprechen, sich für ihn Zeit zu nehmen, ihn nicht zu übersehen ein mutmachendes Erlebnis für ihn. Für mich auf jeden Fall.
Ich grüße Sie und wünschen uns, dass wir wachsam bleiben und die Bedürftigen im Blick behalten
Reinhard Keding